Literaturgeschichte der Schweiz

Johanna Spyri: Heidi

Johanna Spyri, geb. Heusser, * Hirzel ZH 12.6.1827, + Zürich 7.7.1901
  • Geschichten für Kinder und auch für solche,
    welche die Kinder lieb haben (16 Bände 1879-1895):
  • Heimatlos (1879)
  • Aus nah und fern (1879)
  • Heidi's Lehr- und Wanderjahre (1880)
  • Heidi kann brauchen was es gelernt hat (1881)

Die Heidi-Geschichten wurden bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Welterfolg und sie sind auch heute noch bei den Kindern beliebt - sowohl in Buchform wie auch als Hörspiel und Film. Heidi, das mit Abstand bekannteste Werk der Schweizer Literatur, wurde in 50 Sprachen übersetzt, mehr als ein Dutzend Mal verfilmt und hat eine Gesamtauflage von mehr als 50 Millionen Exemplaren erreicht - ein Ende ist nicht abzusehen.


Zusammenfassung der Heidi-Geschichte

Das Waisenkind Heidi wird ihrer Tante bei der eigenen Karriere lästig, deshalb schiebt sie es zu seinem Grossvater, dem kauzigen Alm-Öhi ab. Dieser will das aufgeweckte Naturkind von der Bosheit der Welt abschirmen und schickt es mit dem Geissenpeter und den Ziegen auf die Alpweiden statt in die Schule. Die (allzu harmonische) Idylle findet ein jähes Ende, als Tante Dete wieder auftaucht und Heidi nach Frankfurt bringt, wo sie der gelähmten Klara Gesellschaft leisten und etwas lernen soll.

Heidi lernt dank der Grossmutter von Klara lesen, aber sie verkraftet den Kontrast zwischen dem engen Korsett in der grossbürgerlichen Atmosphäre der Großstadt und der einfachen Alphütte nicht, erkrankt an Heimweh, "jener Krankheit, die erstmals vom Mühlhauser Medizinstudenten Johannes Hofer 1688 als medizinisches Phänomen beschrieben ... als den Schweizern eigenes Leiden gilt" (Ulrich Im Hof: Mythos Schweiz. S. 109), geistert nachts durch das Haus und darf endlich dank der Diagnose des verständnisvollen Hausarztes zum Alpöhi in die Alphütte zurück kehren.

Clara besucht sie dort im nächsten Sommer. Der Geißenpeter wird furchtbar eifersüchtig und stösst den leeren Rollstuhl in einem unbeobachteten Moment ins Tal, dass er zerschellt. Clara muss und kann nun gehen lernen. Heilung an Körper, Geist und Seele in der heilen Alpenwelt - Ende gut, alles gut.



Heidi-Filme

1920 Der erste Heidi-Film war ein Stummfilm aus den USA
1937 Tonfilm von Allan Dawn mit Shirley Temple als Heidi
1952 Schweizer Produktion von Luigi Comencini mit Elsbeth Sigmund als Heidi, Thomas Klameth als Geissenpeter und Heinrich Gretler als Alpöhi. In den USA sehr erfolgreich (300 Kopien in 4300 Kinos)
1955 Franz Schnyder versucht mit seiner Version (in gleicher Besetzung der Hauptrollen wie Comencini) an den Erfolg seiner Gotthelf-Verfilmungen von 1954 und 1955 anzuknüpfen, erster Schweizer Farbfilm, (allzu) offensichtlich im Dienst der Tourismus-Werbung
1965 Österreichische Produktion mit Eva-Maria Sieghammer als Heidi
1967/68 Amerikanische Produktion mit Jennifer Edwards
1977 Japanischer Zeichentrickfilm in 52 Folgen («Heidiii, Heidiii, deine Welt sind die Be-er-ge!»)
1979 26-teilige deutsche Fernsehserie mit Katja Polletin aus Wien als Heidi, dem Schweizer Stefan Arpagaus als Geissenpeter und Katharina Böhm als Clara
1988 Verfremdung des Stoffes: Michael Douglas produziert in Österreich Courage Mountain, in dem Heidi und Peter als junges Liebespaar im Ersten Weltkrieg auftreten
1992 Kleine Fernsehserie von Walt Disney
2001 Der neue Schweizer Heidi-Film von Markus Imboden behält zwar den groben Handlungsrahmen bei, modernisiert allerdings die Details radikal - sowohl in der zum Teil massiv veränderten Psychologie der Figuren (aus dem bockigen Geissenpeter ist ein cooler Teenager geworden und Heidi ist nicht mehr naiv, sondern altklug) als auch beim Hightech-Schnickschnack, mit dem sie miteinander kommunizieren (Internet und SMS).
2001 Remake der erfolgreichen japanischen Comicserie von 1977


Versuch einer Interpretation

Heidi als Kinderbuchklassiker

Vordergründig ist die Heidi-Erzählung sicher «eine emotionale Geschichte um Urängste; die Angst des Kindes, allein, elternlos zu sein und herumgeschoben zu werden.» So weit kann man sicher dem Schweizer Regisseur Markus Imboden zustimmen. Imboden sagte in einem Zeitungsinterview ganz offen, dass er das Heidi-Bild in seinem 2001 gedrehten Film radikal korrigieren möchte, «weil es missbraucht worden ist, ideologisch und politisch instrumentalisiert». Damit reiht er sich in die lange Liste von Schweizer Intellektuellen ein, die mit dem traditionellen Bild von der heilen Schweizer Alpenwelt gar nichts am Hut haben und dagegen mit einer gewissen Hartnäckigkeit und Verbissenheit ankämpfen.

Imboden lässt seinen Heidi-Film (2001) zwar noch auf der Alp (allerdings in einem modernen Bergrestaurant) beginnen, aber an einem Popkonzert im Zürcher Hallenstadion enden. Damit bleibt allerdings von der Grundaussage von Johanna Spyri's Heidi-Geschichte kaum mehr übrig, als das, was die Literaturwissenschaft als das gemeinsame Motiv aller Kinderbuchklassiker von den Grimmschen Märchen bis zu Harry Potter ausgemacht hat: das "Motiv der Elternlosigkeit" oder anders gesagt, das "Auf-sich-selbst-angewiesen-Sein".
Siehe dazu: Hurrelmann, Bettina (Hrsg.): Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Fischer, Frankfurt/M. 1995; besprochen bei Univ.-Doz. Mag. Dr. Ernst Seibert, Textanalysen zur Kinder- und Jugendliteratur (2003 abrufbar unter "www.univie.ac.at/Germanistik/personen/personen_daten/seibert_daten.htm", heute ist dieser Link leider tot).

Damit ist aber der anhaltende Erfolg der Heidi-Geschichte kaum zu erklären. "Keines der Bücher vor oder nach dem Heidi-Roman hat eine vergleichbare Berühmtheit erlangt, keines außer Heidi den religiös-sentimentalen Lesegeschmack der Zeit überlebt." (Hurrelmann 1995, S. 193, zit. nach Seibert) Mit der inneren Distanzierung zum traditionellen Heidi-Bild verbaut man sich wohl auch die Chance, diesen Kinderroman, der wie alle wirklich guten Kindergeschichten auch den Erwachsenen einiges zu sagen hat, tiefer zu verstehen. Was spricht wohl die Leute heute noch an, was ist das Besondere an dieser Figur?


Heidi vor dem Hintergund des 19. Jahrhunderts

Dazu muss ich vielleicht ein bisschen ausholen: Das 19. Jahrhundert war eine Zeit gewaltiger gesellschaftlicher und politischer Umwälzungen, gerade auch in der Schweiz: frühe und bis in ländliche Gegenden (Glarus, Toggenburg) vordringende Industrialisierung, Verarmung breiter Schichten (Pauperismus), Hungersnöte, Landflucht, Auswanderungswellen, Kinderarbeit, Alkoholprobleme, Lohndruck und Arbeitslosigkeit durch rasante technische Entwicklung und politische Umstürze ("Putsch" ist eines der wenigen schweizerdeutschen Wörter, die als Fremdwort in viele andere Sprachen aufgenommen wurden) - sogar ein Bürgerkrieg (Sonderbundskrieg 1847) ist zu verzeichnen. Vor diesem gar nicht so idyllischen Hintergrund schreibt Johanna Spyri: Sie ist selbst in Bauerndorf Hirzel am Albis aufgewachsen, und kam dann in die damals boomende Stadt Zürich, wo sie anscheinend recht unglücklich war.

Der Schweizer Pfarrer und Bauerndichter Jeremias Gotthelf hat als einer der ersten schon um 1830 die Nebenwirkungen der Industrialisierung und des technischen Fortschritts klar vorausgesehen: Stress, Entwurzelung, Materialismus, und er hat mit aller Kraft dagegen angeschrieben - aber anzubieten hatte er nur seine fromme, allzu fromme Emmentaler Bauernidylle, die im übrigen bei genauem Hinsehen so idyllisch auch nicht war und deren abgründige Schattenseiten Gotthelf weder verkannte noch verschwieg. Hilft uns sein "Zurück zur rechten christlichen Tradition" wirklich weiter - diese Botschaft hört man heute zwar auch noch, aber sie spricht eindeutig nur eine kleine Minderheit an.

Anders Johanna Spyri: Ihre Heldin Heidi geht hinaus in die "böse" Welt der Großstadt und soll sich dort bewähren. Heidi als Entwicklungsroman - oder vielleicht eher als Anti-Entwicklungsroman, weil Heidi die von ihr geforderte Entwicklungsleistung ja verweigert, wie das die Literaturwissenschaftlerin Bettina Hurrelmann formuliert? (a.a.O, S. 212)

Ich denke, damit wird man der Heidi-Figur und der Absicht von Johanna Spyri nicht ganz gerecht. Sypri will eben gerade nicht, dass sich ihre Heldin um jeden Preis an die moderne Zeit anpasst, sie will viel eher eine konstruktive Auseinandersetzung mit den neuen Herausforderungen, ohne dabei aber die eigenen Wurzeln zu verleugnen und zu verlieren. Und genau das leistet Heidi ja auch: Sie lernt lesen (nicht wie der verstockte Geissenpeter) und "Heidi kann auch brauchen, was es gelernt hat" - so bringt der Titel des zweiten Bandes das Programm der Autorin auf den Punkt.


Was hat Heidi heute noch zu sagen?

Bei allen Unterschieden: Von der Stimmung her ergeben sich gewisse Parallelen zu der gesellschaftlichen Situation, in der wir heute stehen: Wie Johanna Spyri leben wir in einer Zeit des Umbruchs. Was noch vor zwei, drei Jahrzehnten sicher und klar schien, ist heute in Frage gestellt: Wirtschaftswunder, Vollbeschäftigung, friedliches Zusammenleben der Völker, sichere Rente, Umweltprobleme - die Liste liesse sich beinahe beliebig verlängern. Der Fortschrittsoptimismus der 50-er und 60-er Jahre ist einer grossen Verunsicherung gewichen. Einfach zurück in die ländliche Einfachheit wie zu Gotthelfs Zeiten können wir nicht mehr, das haben schon die Hippies vergeblich versucht und das ist spätestens mit der Reality-Sendung "Sahlenweidli" des Schweizer Fernsehens zum Gotthelf-Jubiläum vom letzten Winter (2004/2005) ganz unmissverständlich klar geworden. Würde Johanna Spyri mit ihrer Heidi-Geschichte nicht etwas anderes als Gotthelf anbieten, dann fände sie heute wohl weniger Resonanz, schon gar nicht in Japan und anderen fernen Ländern, die ja kaum einen Bezug zur christlichen Tradition Europas haben.

Mit der Geschichte vom scheinbar so naiven Alpenkind Heidi propagiert Johanna Spyri nicht etwa einen billigen Rückzug in eine niedliche heile Welt, (diese Option wird vom enttäuschten, menschenscheuen Almöhi, diesem fast schon modernen Aussteiger verkörpert) und auch nicht das verstockte Festhalten an einfachen Modellen (wie beim faulen Geissenpeter, der nicht lesen lernen will). Ganz im Gegenteil: Johanna Spiry möchte Mut machen, die neuen Herausforderungen anzunehmen, dabei aber das gute Herz zu bewahren wie ihre Heldin. Heidi bewegt den schrulligen Alpöhi, zur Rückkehr in die Dorfgemeinschaft, und sie wendet die (vor 125 Jahren noch gar nicht so selbstverständliche) Kulturtechnik "Lesen" an, um der blinden Grossmutter von Geissenpeter Freude zu bereiten.

Heidi lässt sich also sehr wohl auf die neuen Möglichkeiten ein, aber sie hält gleichzeitig auch fest an einer natürlichen Menschlichkeit, sie kämpft mit ihren kindlichen Mitteln gegen die Entfremdung in der Anonymität der Grossstadt und gegen die künstlichen Zwänge des bürgerlichen Erziehungssystems (verkörpert durch die gestrenge Gouvernante Rottenmeier) an - ohne sich aber dem Neuen grundsätzlich zu verweigern.

Das ist so etwas wie ein "dritter Weg" zwischen dem ewiggestrigen, oft religiös-nationalistisch verbrämten Festhalten an einer scheinbar idyllischen Tradition, auf das man den Gotthelf (etwas zu Unrecht) heute gerne reduziert und einer unkritischen Fortschrittsideologie, die uns in den letzten Jahren immer mehr so genannte Sachzwänge beschert hat.

Johanna Spyris Heidi-Geschichte versucht Halt zu geben in einer Welt, die durch raschen gesellschaftlichen Wandel in Unordnung geraten ist und die Menschen zu tiefst verunsichert - und das ist es wohl, was sie auch heute attraktiv macht, angesichts von Neoliberalismus und Globalisierung. Nicht nur bei uns, sondern noch viel mehr in Japan, das in den letzten Jahrzehnten sozialpolitisch noch viel heftiger durchgeschüttelt worden ist als Westeuropa.

Ergänzung 2015

Obwohl sie sich in der Regel für unheimlich avantgardistisch halten, brauchen Künstler und Geisteswissenschaftler manchmal doch etwas länger, um gewisse soziale Themen aufzugreifen. Mit meinem obigen Interpretationsversuch stand ich 2003 etwas exotisch in der Landschaft, weder der Künstler Markus Imhof noch Magister Seifert konnten wirklich etwas mit Heidi anfangen, sie wollten oder konnten die Thematik «Entwurzelung durch raschen gesellschaftlichen Wandel» (und damit die Verknüpfung zu den gesellschaftlichen Folgen der «Globalisierung») nicht hinter dem «religiös-sentimentalen» Werk von Johanna Spyri (so Prof. Hurrelmann) wahrnehmen.

Das mag auch damit zusammenhängen, dass die erste Generation der Nachkriegs-Intellektuellen so stark von der Idee der Welt als «globales Dorf» fasziniert und von ihrer «erfolgreichen Umsetzung» im Zeichen von Globalisierung und Internet so begeistert ist, dass sie deren Schattenseiten insbesondere aus der Optik der «kleinen Leute» nicht wahrnehmen (können). Dabei sollte gerade diese Generation von Intellektuellen eigentlich in den klassischen Schriften des Marxismus (die ihnen ja bestens vertraut sein sollten) mal über den Begriff der Entfremdung gestolpert sein. Auch wenn es selten gesagt wird bzw. schon beinahe als politisch unkorrekt gilt, so etwas zu sagen: In der schönen neuen globalisierten und damit multikulturellen Welt fühlen sich viele einfache Leute nicht mehr zu Hause und machen sich durchaus berechtigte Sorgen über ihre Zukunft.

Mehr als ein Jahrzehnt später wird eben diese, von mir 2003 als eigentliche Ursache für die anhaltende bzw. neu erwachte Popularität der Heidi-Romane gerade auch in Japan vermutete «Entwurzelung durch Globalisierung» in einer Installation zum 300-Jahre-Jubiläum der deutschen Stadt Karlsruhe sehr anschaulich thematisiert:

Leandro Erlich (Argentinien): Pulled by the Roots (2015, Marktplatz Karlsruhe)
Leandro Erlich (Argentinien): Pulled by the Roots
Kunstinstallation auf dem Marktplatz in Karlsruhe, Sommer 2015
«Erlich, der weltweit für seine hyperrealen Skulpturen und Installationen bekannt ist, greift mit dem Werk auf unmissverständliche Weise globale Themen wie Entwurzelung, Migration oder Simulation auf.» (Zitat aus der offiziellen Webseite des Kunstprojekts)


Literatur und Links zu Johanna Spyri, Heidi

und zur Jugend- und Kinderliteratur allgemein: Zum Mythos Schweiz und zum Heimweh:

Literaturgeschichte der Schweiz: 
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